SonntagsBlick 5. März 2006,
Seite 2
Aktuell
„3 Liter Bier pro Abend sind doch ganz normal“
VOLLSUFF Die Rauschtrinker werden immer jünger.
In den Schweizer Spitälern liegen immer öfter schwer alkoholisierte
Kinder auf den Notfallstationen. Da zeigen neue, erschreckende Zahlen.
von Daniel Jaggi
Saufen ohne Unterbruch. Schon Zwölfjährige greifen zur Flasche
und füllen sich bis zur Besinnungslosigkeit ab. Im Januar liess das
Meinungsforschungsinstitut Isopublic 500 Jugendliche befragen, ob sie
schon einmal betrunken gewesen seien. Ergebnis: In der Altersgruppe der
Zwölf- bis Vierzehnjährigen antwortete jeder Dritte mit Ja.
Jeder Fünfte gab immerhin zu, hie und da alkoholische Getränke
zu konsumieren. Jeder Zehnte tut dies sogar mehrmals wöchentlich,
wie eine Umfrage im Auftrag der «Schweizer Illustrierten»
ergab.
Übermässig getrunken wird vor
allem in Gruppen
Besonders alarmierend sind die Zahlen der noch unveröffentlichten
Krankenhausstatistik 2006. Sie zeigen, dass in den vergangenen Jahren
immer häufiger Kinder und Jugendliche notfallmässig eingeliefert
werden müssen - mit Alkoholvergiftung.
2004 waren es sechs Zwölfjährige und 32 Dreizehnjährige
- doppelt so viele wie vor vier Jahren.
58 Vierzehnjährige erlitten eine Alkoholvergiftung - dreimal so viele
wie vor vier Jahren; bei den Fünfzehnjährigen waren es sogar
101!
Iso Hutter (40), Oberarzt am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen,
spricht von einem anhaltenden Trend und «massiver Zunahme».
Urs Rohr (42) von der Zürcher Suchtpräventionsstelle ergänzt:
«Getrunken wird vor allem in Gruppen. Dort wollen sie ihren Kollegen
zeigen, dass sie <Siebesieche> sind.»
Das so genannte Rauschtrinken ist unter den Jugendlichen
ein neues Phänomen, erklärt Ruedi Löffel (44), Projektleiter
Suchtprävention beim Blauen Kreuz in Bern. «Und wie reagiert
die Partyszene darauf?» fragt er. «Sie organisiert allerorts
Trinkgelage wie beispielsweise Ballermann-Partys.»
Fachleute sehen im Rauschtrinken eine Flucht aus dem Alltag: «Die
Jugendlichen versuchen auf diese Weise, dem enormen Druck auszuweichen,
der in diesem Alter auf sie einwirkt», sagt Rohr. Sie hätten
grosse Mühe, sich in einer Gesellschaft von Individualisten zu orientieren.
Die Eltern schauen viel zu häufig
weg
Die Schweizer Jugendlichen sind aber nicht schlimmer als die anderen:
Im europäischen Vergleich befinden sie sich im Mittelfeld. Spitzenreiter
im negativen Sinn sind die englischsprachigen Länder sowie die «Bierländer»
Deutschland, Belgien, Dänemark und Norwegen, wie in einer europäischen
Studie festgestellt wurde.
Präventionsexperte Löffel sieht das Hauptproblem
allerdings weniger im schwachen Selbstbewusstsein mancher Jugendlicher.
Für ihn sind in den meisten Fällen die Eltern schuld. «Viele
sagen: <Hauptsache, er drögelet nicht>, und verkennen dabei
die Gefahr, die vom Alkohol ausgeht.» Für Löffel ist klar:
«Wenn wir Erwachsenen nicht rigoros einschreiten, werden tausende
von neuen Alkis herangezüchtet.»
Kinderleicht in den Vollrausch
TESTKÄUFE Für Minderjährige ist es kein
Problem, Alkohol zu kaufen. Tests zeigen: Die Hälfte der Wirte und
Händler tut so, als wäre das erlaubt.
BENNO TUCHSCHMID UND BARBARA LIENHARD
«Eine Stange bitte.» Im Berner Restaurant «Goldener
Schlüssel» herrscht Hochbetrieb. Der Kellner wirft einen kurzen
Blick auf Manuel Hügli (15) und reicht ihm ein Bier. Das ist illegal,
denn Alkohol darf laut Gesetz erst an 16-Jährige verkauft werden.
Mit Hilfe von Testpersonen wie Manuel prüft das Blaue Kreuz, eine
Organisation zur Vorbeugung gegen Suchtgefahren: Schenken Betriebe Alkohol
an Minderjährige aus? Die Ergebnisse sind eindeutig. In 54 Prozent
der getesteten Lokale im Kanton Bern bekamen Minderjährige Alkohol.
Die Zahlen aus dem Kanton Zürich sind auch nicht besser: Von 565
Betrieben schenkten 45 Prozent Alkohol an unter 16-jährige aus. Astrid
Burtscher (41), Leiterin Prävention vom Blauen Kreuz des Kantons
Zürich, sagt entsetzt: «Bei unseren Tests bekamen sogar Elfjährige
problemlos Alkohol.»
Mit den Testkäufen wird das Blaue Kreuz direkt von Behörden
und Gemeinden beauftagt. Und diese reagieren auf Alk-Verkauf an Minderjährige
- teilweise mit Bussen. Doch die Sanktionen sind zu wenig hart, findet
Burtscher. «Bussen von 500 Franken sind für die wenigsten Betriebe
schmerzhaft. Die Justiz könnte Strafen bis 10'000 Franken aussprechen,
oder gar Patente entziehen.»
Das Geschäft mit den Jugendlichen scheint so lukrativ zu sein, dass
manche Betriebe sich nicht einmal davon abschrecken lassen, wenn Testkäufe
im Vorfeld angemeldet werden.
Auf den Test angesprochen erklärt Jost Troxler (55), Geschäftsführer
des «Goldenen Schlüssels»: «Unsere Angestellten
haben wegen der Fasnacht so viel zu tun, dass sie unmöglich alle
Ausweise kontrollieren können.»
Ruedi Löffel(41), Projektleiter bei der Fachstelle
für Suchtprävention vom Blauen Kreuz in Bern, hört solche
Erklärungen täglich. «Der Verkauf von Alkohol an Minderjährige
ist eine Schweinerei, egal, ob gerade Fasnacht ist oder nicht»,
sagt er, «denn genau so werden tausende von Alkoholikern herangezüchtet.
Aber anstatt Verantwortung zu übernehmen, schaut die Gesellschaft
nur zu.»
zurück
|